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Ein Stern am Himmel
Solange ein Stern am Himmel steht

Es ist ein kühler Winterabend. Die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs scheinen auf ihr bleiches Gesicht und ein Gefühl der Hoffnung erfüllt sie, denn es scheint ganz so, als ob der Frühling bald kommt.
Als sie den letzten Satz in ihr Tagebuch schreibt, wird ihre Aufmerksamkeit zu einem jungen Mann gelenkt, der sich neben sie auf die Bank gesetzt hat. Er hört sich so an, als ob er ein Wettrennen um den Block gemacht hätte und sich jetzt eine kurze Verschnaufpause auf der Bank gönnte.
«Ist alles in Ordnung?», fragt sie leise.
Seine kräftige Statur schüchtert sie ein.
Er dreht seinen Kopf, um zu ihr zu schauen, und schiebt sich sein zerzaustes, karamellfarbiges Haar nach hinten.
«Ich...»
Er verstummt und wendet leicht den Blick ab.
«Die Frage ist doch eher, ob bei dir alles in Ordnung ist. Was macht so ein junges Mädchen so spät am Abend auf einer Bank in einem verlassenen Park?», bemerkt er mit einem spöttischen Unterton, der sie auf der Stelle stutzig macht.
«Was fällt ihm ein, so mit mir zu reden?», denkt sie.
Ohne zu zögern erwidert sie: «Freundlich bist du, das muss man dir lassen. Was ich hier tue, geht dich nichts an. Du hast dich gerade so angehört, als ob du eine Verfolgungsjagd durch die ganze Innenstadt hinter dir hättest. Da wollte ich freundlich sein und nachfragen, ob alles in Ordnung sei. Nun ja, leider haben Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft heutzutage keine Bedeutung mehr, man ist nur auf sich selbst fokussiert und das Schlimm–»
Noch bevor sie ihre geplante Rede halten kann, unterbricht er sie: «Du willst mir helfen? Dann mach mir doch ein Sandwich.»
Er lacht leise in sich hinein, doch sie findet das absolut nicht amüsant. Was bildet sich dieser arrogante Kerl eigentlich ein?
«Falls du versuchst, witzig zu sein, dann kann ich dir mit Gewissheit versichern, dass du gescheitert bist!», erwidert sie aufgebracht, verblüfft über seine Unverschämtheit.
«Freches Mädchen», sagt er mit einem Grinsen, das ihn optisch viel kindlicher erscheinen lässt, fast schon süß. Sie verdreht unwillkürlich die Augen.
Er rückt näher zu ihr, so dass sie beinahe seinen Arm spüren kann, und sieht in ihr altes Notizbuch hinein, das vom vielen Schreiben schon ganz schäbig wirkt.
Aufdringlich fragt er: «Was steht da drin?»
Schnell klappt sie ihr Buch zu, öffnet ihren Rucksack, packt es ein und steht auf. Sie wendet sich von ihm ab. Vor ihr liegt der Steinweg, der aus dem Park hinausführt.
Als sie Schritte hinter sich hört, verdoppelt sie ihr Tempo. Sie dreht sich um und sieht den Fremden, der seine Schritte ebenfalls beschleunigt.
Sogleich befällt sie eine panische Angst. Die letzten rötlichen Farben des Sonnenunterganges sind schon vom Himmel verschwunden. Es ist Nacht.
Sie versucht zu entkommen, doch leider vergebens. Seine kräftige Hand fasst sie am Rücken und ihr stockt der Atem.
Was will er bloss? Sie weiss, sie sollte nicht mit wildfremden Jungs reden und ihnen Vorträge über Hilfsbereitschaft halten.
«Hier. Du hast deinen Stift auf der Bank liegenlassen», keucht er und streckt ihr seine Hand entgegen.
«Danke… ähm.»
Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, nachdem sie panisch vor ihm weggelaufen ist. Dabei wollte er ihr nur helfen. Peinlich.
«Hattest du etwa Angst, als ich dir nachgelaufen bin?», fragt er belustigt und stemmt die Hände in seine Hüften.
«Ja, was hätte ich bitteschön denken sollen, als du im Dunkeln hinter mir herranntest?», erwidert sie und lacht ein wenig schüchtern. Dabei rückt sie einen Schritt näher zu ihm, um ihren Stift zu schnappen.
«Tut mir leid, ich war vorhin nicht sehr freundlich zu dir», murmelt er verlegen.
«Nicht sehr freundlich?», erwidert sie scharf, «du hast mich dazu aufgefordert, dir ein Sandwich zuzubereiten. Das ist arrogant und unverschämt!»
«Es tut mir leid. Ich hätte meine Wut nicht an dir auslassen sollen, indem ich Witze mache und ‹unverschämt› war. Verzeihen Sie mir, hochgnädige Dame?»
Er grinst sie an und streckt dabei seine Hand in ihre Richtung. Er lässt ihr keine Zeit für eine Antwort auf seine wohl nicht ernst gemeinte Frage und bedrängt sie schon zum zweiten Mal: «Ich heisse Lucas und du?»
«Du kennst wohl die Bedeutung des Begriffs ‹Privatsphäre› nicht. Zuerst schaust du in mein Tagebuch und jetzt willst du gleich meinen Namen wissen?»
«Aha», ruft er triumphierend und zeigt mit dem Finger auf sie, als hätte er sie bei einer Straftat erwischt, «ein Tagebuch!»
Sie schaut weg und verschränkt ihre Arme hinter dem Rücken.
Sie redet nur sehr ungern darüber. Sie führt ein Tagebuch seit sie mit elf Jahren bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen wäre. Sie hat angefangen ihre Gedanken und Ängste in Briefe zu verpacken. Alle Briefe sind ans Leben gerichtet. Dadurch hat sie ihre Angst und Panikattacken einigermassen in den Griff bekommen. Sie könnte sich niemals vorstellen, jemanden diese Briefe lesen zu lassen. Denn sie beinhalten ihre intimsten und persönlichsten Gedanken, die sie ansonsten mit niemandem teilt. Sie vertraut sich niemandem an. Sie hat oft das Gefühl, von anderen Menschen missverstanden zu werden. Wozu dann der Aufwand, wenn Papier sowieso geduldiger als Menschen ist?
«Hey, ist doch okay. Ich führe auch ein Tagebuch.»
«Wirklich?»
«Ja… nein. Aber ich finde es süss, dass du es tust.»
Um das Thema zu wechseln, streckt sie ihm ebenfalls die Hand entgegen: «Mein Name ist Dona.»
Er lächelt und freut sich anscheinend, dass sie seine Frage nicht ignoriert hat.
«Dona?», wiederholt er und verzieht das Gesicht.
«Dieser Name erinnert mich an eine alte Oma…»
Sie seufzt vernehmlich.
«Oder nein, warte! An eine Ente… Donald Duck!»
Sie verdreht die Augen schon zum soundsovielten Mal an diesem Abend.
«Dir gefällt es wohl, andere Menschen zu ärgern, was?»
«Nur Mädchen, die sich so süss und energisch aufregen und gleich abhauen oder dir einen Vortrag über Menschlichkeit halten wollen.»
Sie hebt eine Braue und fragt verwirrt: «Warum sollte ich nicht vor einem Fremden abhauen? Oder gar mit jemandem sprechen, der so unhöflich ist?»
Er wirft ihr einen Blick zu und scheint etwas erwidern zu wollen, besinnt sich dann aber eines Besseren. Als sie an seinen Namen denkt, fällt ihr ein, dass ein Arbeitskollege ihres Vaters einen Sohn mit demselben Namen hat. Das Alter passt auch.
«Du heisst Lucas? Kann es sein, dass du zufällig Lucas Schmied heisst?», fragt sie nach.
«Ja, woher weisst du das?», fragt er verdutzt.
Auf seiner Stirn bildet sich eine kleine Falte.
Sie schmunzelt und versucht mysteriös zu wirken: «Ich weiss alles über dich.»
Sie versucht witzig und locker zu sein. Anscheinend leidet sie ständig unter einem nervösen Angstzustand, der durch die strenge Erziehung ihrer Eltern entstanden ist.
«Ach ja? Welche Farben haben also meine Socken?»
Ein höhnisches Grinsen umspielt seine Lippen.
«Schwarz!», erwidert sie im Brustton der Überzeugung. Er lacht warmherzig und sie stimmt in sein Lachen mit ein.
«Unsere Väter arbeiten zusammen. Dein Vater war letzthin bei uns zum Abendessen da.»
Er scheint kurz zu überlegen. Dabei führt er die langen, hageren Finger an sein Kinn und streichelt seinen hellen Bart. Seine Haltung ist sehr lässig und erfrischend. Und sympathisch.
Selbst wenn er sie mit seinen Sprüchen ärgert, hat er doch etwas an sich, was sie nicht gleich zum Rasen bringt. Sein Blick trifft ihren und sie sieht ihm zum ersten Mal genau in die Augen in seine dunkelbraunen, warmen Augen.
Sein Gesicht wird von der Strassenlaterne beleuchtet. Ihr Magen flattert, als er sie nochmals anlächelt. Das Lächeln strahlt so viel Lebensfreude aus, dass er sie gleich damit ansteckt.
«Aha, ihr seid die nette albanische Familie, die vor kurzem hier eingezogen ist?», meint er, während er sie mustert.
Er wartet auf eine Antwort. Sie bejaht, schaut dabei auf die Uhr und bemerkt die späte Uhrzeit. Ihr fällt ein, dass sie ihren Eltern gesagt hat, sie werde schon um 19:00 Uhr zu Hause sein.
Jetzt ist sie schon zwanzig Minuten zu spät und die Dunkelheit hat den Himmel ganz erfasst.
Da ihrem Vater Unpünktlichkeit und ‹Ausreden› überhaupt nicht gefallen, ergänzt sie schnell: «Ich muss jetzt los! Ich sollte schon zuhause sein.»
Er bemerkt die Panik in ihrer Stimme und nickt.
«Soll ich dich nicht lieber begleiten? Es ist doch schon ganz dunkel, und…»
Sein Gesicht nimmt eine rötliche Farbe ein, was sie ziemlich süss findet.
«Du entführst mich doch nicht?», ihr entfährt ein kurzes Kichern.
«Nein, nein… Okay, vielleicht», meint er und zwinkert ihr zu. Sie muss unwillkürlich lächeln, und er lächelt mit. Sein Lächeln ist offenherzig und warm, fast kindlich, aber auf eine sehr einnehmende Art.
Da der Winter sämtliches Blattwerk genommen hat, kann er durch die Lücken zwischen den Zäunen die dahinterliegende Strasse erkennen.
«Bist du oft hier?», fragt er, nachdem sie eine Weile spaziert sind.
Sie fasst es nicht, dass sie mit einem wildfremden Typen durch die Straßen spaziert. Was ist, wenn sie einen Verwandten antrifft? Und ihre Eltern etwas von dieser Begegnung erfahren? Sie wäre geliefert.
Ein Gefühl der Angst überfällt sie und sie versucht unauffällig einen gewissen Abstand zu ihm zu halten, damit sie im schlimmsten Fall behaupten kann, er sei nur irgendein Passant, der gerade unterwegs war.
«Ich bin sehr oft hier im Park, um in Ruhe zu schreiben. Um mir eine Auszeit von den Menschen zu nehmen», erklärt sie mit einem nervösen Unterton. Sie fragt ihn daraufhin dasselbe. Er erzählt ihr, er sei hier, weil er die Natur möge und die Ruhe geniesse.
«Aber vorhin sah es nicht so aus, als ob du in aller Ruhe die Natur genossen hättest. Bist du vor etwas weggerannt?», bemerkt sie vorsichtig.
Er schweigt kurz und erwidert schliesslich: «Ich hatte einen Streit mit einem guten Freund.»
Seine Stimme klingt zwar neutral, aber irgendetwas an seinem Ton signalisiert ihr, dass weitere Fragen in diese Richtung unerwünscht sind. Also schweigt sie und schaut auf ihre Finger. Sie habe gar nicht gemerkt, wie kalt es ist. Ihre Finger sind von der Kälte taub und blau geworden.
Sie mag den Winter. Er fühlt sich so unberechenbar an, so mächtig. Wie eine Eiskönigin, die nur vom Frühling besiegt werden kann.

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